Ich hatte sie nie um ein Foto gebeten. So viel Mut hatte ich damals
nicht. Um so glücklicher war ich, dass damals noch ein offizielles
Gruppenfoto von unserer Freizeit in Asnæs in Dänemark
angefertigt worden war. Jeder Teilnehmer der Sommerfreizeit im
Jahr 1979 bekam unaufgefordert dieses Gruppenbild.
Schade, dass wir zwei nur ganz klein auf dem Foto zu sehen sind.
Kerstin. Ihr Name war Kerstin. Den Nachnamen habe ich auch
noch in bester Erinnerung, darf ihn aber aus Datenschutzgründen
hier nicht nennen. Sie war wie ich 15 Jahre alt.
Und sie wohnte in Recklinghausen. Das war blöd. Ich meine, sie
hätte ebenso gut in Sydney/Australien leben können.
Recklinghausen war eine Ewigkeit weit entfernt. Ein Briefwechsel
– und wir schrieben einige Briefe – dauerte immer so ungefähr
eine Woche.
Sie schrieb zurück. Das war ja schon einmal etwas.
Dass wir auf dem Gruppenfoto dicht beieinandersaßen, hat sich
ganz natürlich ergeben. Wo ich war, war sie. Und wo sie war, da
war ich auf dieser Sommerfreizeit.
Man sieht auf dem Gruppenfoto, wie schön sie ist. Und sie hat
dieses freche Lächeln, das ich so liebte.
Leider fehlte mir selbst dieses Kecke, Draufgängerische so ganz
und gar.
Kein Wort brachte ich heraus, wenn wir zusammen waren. Und
dabei wäre es so einfach gewesen.
Aber ich sagte damals nichts. Weil sie mir so viel bedeutete.
Und auch meine Briefe müssen recht öde gewesen sein. Ich
schrieb von der Sonne, dem Mond und den Sternen. Und ich
schrieb über meine Vorstellungen von der Beschaffenheit der
Welt.
Dass sie mir trotzdem auf meine Briefe antwortete, verblüfft mich
bis heute.
Statt von der Beschaffenheit der Welt zu phantasieren, hätte ich
lieber von der Beschaffenheit meiner Empfindungen zu ihr
sprechen sollen. Alles was ich ihr schrieb, hatte so gar nichts mit
uns zu tun.
Und dann wurde es Herbst. Unendliche drei Monate waren
vergangen, und es gab ein Freizeitnachtreffen in Kassel.
Es war wie im Sommer. Wir aßen zusammen, wir waren diese zwei
Tage des Nachtreffens unzertrennlich. Aber ich brachte erneut
kein Wort über die Lippen. Ich habe ihr nie gesagt und
geschrieben „Ich liebe Dich.“ Man muss nicht unbedingt Kardinal
sein, um einen Kardinalfehler zu begehen. Nicht zu sagen „Ich
liebe Dich“, wenn man doch so fühlt, ist in jedem Fall ein
Kardinalfehler.
Sie hieß Kerstin. Der Sommer 1979 war warm, die Nächte waren
kurz und sternenklar. Das Salz war im Meer und auf unserer Haut.
Und das Sommerbild liegt jetzt in meinen Händen.